Harald Hillgärtner

Ein Kramladen des Glücks
Filesharing aus Leidenschaft

»Kein Zweifel, das Jagen & Sammeln ist eine mehr-als-anthropologische Konstante. Ein ums andere Mal konvergiert die Individualgeschichte vom spielenden Kind bis zum hortenden=scheffelnden Greis mit der Evolutionsgeschichte. Insekten, wie Ameisen oder Bienen, sammeln und bauen sich dazu alle erdenklichen Gehäuse, Waben & Hohlformen. Vögel kugeln sich Nester aus Hamster graben Höhlen und von Benjamins physiognomischer Erscheinung sagt Adorno, in ihr habe sich das Moment des Sammlers und Antiquars ausgeprägt: er habe etwas – es sei schwer dafür ein richtiges Wort zu finden – von einem Tier, das in seinen Backen Vorräte sammle«.1

Das Phänomen des Filesharing wird meist nur unter einem einzigen Aspekt verhandelt, der zugegebenermaßen auch die wichtigsten juristischen und ökonomischen in sich birgt: dem der Verletzung des Urheberrechts. Hier eine Haltung einzunehmen, die den beiderseits legitimen Rechten der Nutzer sowie der Künstler und der Verwertungsindustrie Rechnung trägt, fällt nicht nur dem Gesetzgeber schwer, wie an der jüngsten Novelle des Urheberschutzrechts leicht abzulesen ist. Wird zwar formal am Recht auf »Privatkopie« festgehalten, welches bereits früher dazu führte, dass der Einsatz von Kopierschutz auf Videokassetten untersagt wurde, so wird doch in Zukunft das Umgehen von Kopierschutzmaßnahmen unter Strafe gestellt.2 Frage ist freilich, was dann noch besagtes Recht auf Privatkopie wert ist. Vermutlich wenig. Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Gesetzesnovelle die durchaus für Interpretationen offene Einschränkung beinhaltet, dass der Kopierschutz »effektiv« sein muss, um seine Umgehung strafbar werden zu lassen. So ist sicherlich fraglich, ob das aufwändig entwickelte CSS-System zum Verschlüsseln von DVDs als ein sicheres Maßnahme gelten durfte, wurde doch CSS innerhalb weniger Stunden von einem norwegischen Teenager »entschlüsselt«.

Gründe lassen sich mehrere benennen, warum eine solch paradoxe Konstruktion notwendig geworden ist, bei dem das Recht auf Privatkopie, dass im wesentlichen die Herstellung von sieben Kopien für Freunde und Verwandte deckte, effektiv vom Verbot des Umgehens von Kopierschutz ausgehebelt wird. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass, wo vormals ein Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen von Nutzern und Produzenten mit einer pauschalen Urheberabgabe bei Fotokopierern, Audio- und Videoleerkassetten an die entsprechenden zentralen Verwertungsgesellschaften erzielt worden ist, dies offenbar im »globalisierten« Markt aufgrund von Lobbyarbeit auf Seiten der Produzenten nicht mehr möglich gewesen ist.3

Doch es soll an dieser Stelle nicht erneut um die prekäre Lage geistigen Eigentums im gegenwärtigen »Informationszeitalter« gehen, das ja gerade vor ein paar Jahren noch seine Apologie eben in der uneingeschränkten Verfügbarkeit allen »Inhalts« fand, und nun, wo es in den Filesharing-Netzwerken seine unkontrollierte Erfüllung findet, besagte Probleme aufwirft. Wichtig anzumerken ist nur, dass die Nutzer der Netzwerke anhand ihrer IP-Adresse, falls sie sich nicht die Mühe machen, diese zu verbergen, sehr wohl identifizierbar sind. So findet derzeit in den USA eine breit angelegte Kampagne statt, bei der die Anbieter von Internet-Zugängen dazu verpflichtet werden sollen, persönliche Daten von Kunden bereitzustellen, die auf ihren Computern urhebergeschützte Dateien zum Download anbieten, um gegen diese rechtliche Schritte einzuleiten.4 Mithin wird die Auseinandersetzung einmal mehr vor Gericht ausgetragen und, falls sich die Industrie im angestrebten Maße durchsetzt, wäre das unkontrollierte Tauschen von Dateien vielleicht schon bald »historisch« zu nennen. Hiermit wäre aber auch ein Impuls eines der Architekten des Internet, J.C.R. Licklider, weitgehend hinfällig: der ungehinderte Zugriff auf Computerressourcen weltweit und deren Weiterverwendung mittels des Computers.

Licklider, der sich zunächst als Kognitionspsychologe mit den Problemen der Mensch-Maschine-Interaktion beschäftigte, wendete sich als Forscher zunächst am MIT und später innerhalb der ARPA dem TimeSharing zu, mit dem die seinerzeit außerordentlich kostbare Rechenzeit der Computer mehreren Nutzern parallel zur Verfügung gestellt werden sollte. Hieraus entwickelte sich die Idee, dass nicht jede »Community« das Rad selbst neu erfinden muss, sondern das neben der Rechenzeit eben auch Daten und Programme geteilt werden können. Mithilfe eines Computernetzwerkes, dass seinerzeit in Planung war, sollten sich – statt der um einzelne Rechner gruppierten Communities – so genannte »Supercommunities« bilden, die nicht aufgrund topografischer Nähe zusammenarbeiten, sondern allein auf Basis gemeinsamer Interessen.5 Dass das Internet eine solche Zusammenarbeit möglich gemacht hat, wurde nicht zuletzt durch die weltweit parallel stattfindende Entwicklung des Linux-Kernels anfang der 90er Jahre eindruckvoll aufgezeigt: »Linux was the first project to make a conscious and successful effort to use the entire world as its talent pool.«6

Zu Fragen wäre an dieser Stelle, ob nicht die Nutzer der P2P-Technologie in gewissem Maße eine Supercommunity darstellen. Zwar zeichnen sich diese Supercommunities im Sinne Lickliders vor allen Dingen dadurch aus, dass sie die zur Verfügung stehenden Ressourcen verwenden, um selbst kreativ zu werden. Jedoch steckt hinter dem Gedanken einer Supercommunity – wenn auch unausgesprochen – eine Art utopischer Moment einer Zusammenarbeit, bei der Ressourcen nach Maßgabe der Brauchbarkeit für das Projekt und eben nicht nach Maßgabe der Verfügbarkeit verwendet werden. Licklider jedenfalls stellt die Frage nach dem Urheberrecht nicht.

Wenn nun Filesharing nicht mehr möglich sein sollte, dann wären solche Phänomene wie der so genannte Bastard-Pop, der sicherlich als ein Nebeneffekt des freien Austauschs von Dateien angesehen werden darf, hiermit ihrer wesentlichen Quelle beraubt.7 Der Computer fungiert beim Bastard-Pop gleichzeitig als Medium der Distribution und als Werkzeug der Weiterverarbeitung. Dieses Modell ist grundsätzlich zu unterscheiden von der bisherigen Praxis, bei der die Produkte etwa berühmter Popstars nicht ohne weiteres weiterverwendet und weitergegeben werden dürfen, da am unveränderten Produkt die gesamte Wertschöpfungskette hängt. Wird aber die Nutzerin unter Entwendung fremden Materials selbst zur Produzentin, so ändert sich ihr rechtlicher Status: »Am Bastard Pop zeigt sich aber auch die politische Dialektik der Umrüstung der Empfangs- zu Sendeapparaten. Denn juristisch gesehen, sind Peer-to-peer Archivare keine Privatleute mehr, sondern Verleger, und ihre Datensammlungen keine Privatobsessionen mehr, sondern eine massenmediale Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte.«8

Wie bereits gesagt, soll der Frage nach der Legitimität des Tauschens nur wenig Platz eingeräumt werden, vielmehr möchte dieser Aufsatz eine kleine Apologie sein, nicht eine der Informationsgesellschaft, sondern dessen, was Florian Cramer in Anlehnung an Harald Szeemans Museum der Obsessionen seinerseits die »privaten Obsessionen« nennt: die Peer-to-peer-Netzwerke als (öffentliche) Sammlungen privater Besessenheit. Es soll also gehen um die Obsession, die Leidenschaft des Sammelns und Anbietens. Hierbei soll allerdings keine Rolle spielen, dass ein nicht unerheblicher Anteil des in den Netzwerken vorfindlichen Materials pornographischen Inhalts ist, auch wenn die Verwendung des Begriffes »Obsession« eine solchen Gedankengang gewissermaßen nahe legen würde.

Dass das Internet über eine sichtbare und über eine unsichtbare Seite verfügt, mag kein Geheimnis sein. Spätestens mit der vollzogenen Trennung von Internet und MILnet, also der Absonderung seines milittärischen und geheimen Teils vom offiziellen und öffentlichen Bereich, der seinerseits erst mit dem WWW und der einhergehenden Kommerzialisierung wirklich als öffentlich bezeichnet werden darf, wäre ein solche Unterscheidung zu treffen. Doch ist inzwischen das Nichtoffiziell-Geheime durch mehrere Neuerungen auf dem Gebiet der Kompressionsalgorithmen9 sowie der fortschreitenden Einführung breitbandiger Internetanschlüsse für Privatnutzer um einen ebenso »inoffiziellen«, wenn auch nicht geheimen, Sektor erweitert worden: dem Peer-to-Peer, oder kürzer »P2P«.

So ließen sich, Freuds topologischer Modell der Psyche diene hier als Metapher, drei Bereiche im weltumspannenden Computernetzwerk benennen. Während das WWW und mit ihm die Mail-, IRC- und FTP-Server die »bewusstseinsfähige« Seite des Internet bilden, sind P2P und MILnet diesem gewissermaßen entzogen. Letzters, durchaus geheimnisumwoben, übernähme in diesem Modell die Rolle des Überwachers, wenn auch die Gerüchte über Echelon nur schwer zu verifizieren sind.10 P2P hingegen als sich immer neu strukturierenden temporärer Verbund der Massenspeicher vieler tausend Nutzerinnen, wäre der Untergrund, das Es.11 Doch soll die Analogie nicht weiter strapaziert werden, zumal Freuds Modell einige weiter gehende Bestimmungen enthält, die eine Parallelisierung von Internet und menschlicher Psyche verbieten. Einzig das Bild vom Untergrund, als Bereich für das vermeintlich vergessene, Verdrängte und Verbotene, für die Obsessionen soll hier eine Rolle spielen.

P2P hat nicht die Struktur des WWW mit seinen Verknüpfungen, firmierend unterm Schlagwort vom Hypertext. Nicht verknüpft, sondern schlicht unverbunden und nebeneinander finden sich hier Bücher, Musikstücke, oftmals ganze Alben, Kinofilme und aufgezeichnete Fernsehsendungen. Der Zustand, die Qualität der Dateien ist dabei heterogen: Trümmer, Fragmente, vergessene Dateien und Fälschungen,12 aber auch thematische Sammlungen von Filmen, neuer Musik und philosophischen Schriften nebst Raritäten, wie sie schwerlich im Handel zu finden sein werden, wie eine niemals verlegte Aufnahme der »Nashville-Sessions« von Bob Dylan und Johnny Cash, haben hier ihren Platz.

Das Verhalten des Nutzers ist dabei nicht das von Verknüpfung zu Verknüpfung hangelnde »Surfen« im WWW, sondern das des Anglers, der vor dem Monitor ausharrend darauf wartet, dass die gewünschte, zum Download ausgewählte Datei »anbeißt«, um nach erfolgtem Laden, das zwischen wenigen Minuten und einigen Tagen dauern kann, seine Beute zu begutachten und sie bei Gefallen seiner Sammlung einzuverleiben. Selbstverständlich spielt hierbei das Rüstzeug eine eminent wichtige Rolle: von der prinzipiellen Entscheidung, in welchem der unterschiedlichen Netze13 man auf die Suche geht, hin zur möglichst aktuellen Version der zum Download benötigten Software, in Verbindung mit der Feinabstimmung der diversen Parameter, die das Programm in seinen Menüs anbietet. Obsessiv mitunter also nicht bloß das Sammeln, sondern bereits die Vorbereitung darauf.

Ob aber die Rede vom Sammeln beim liebevoll so genannten »Napstern«14 seine Berechtigung hat, ist insofern schwer zu bestimmen, da das Sammeln eine kulturhistorisch lange Tradition hat und sich dabei in aller Regel auf einzigartige Gegenstände bezieht. Das Anhäufen solcher Immaterialien wie Computerdateien hat dagegen eine weniger lange Tradition. Allerdings hat das eingangs zitierte Bild vom Jäger und Sammler zumindest insofern seine Stimmigkeit, da wohl kaum ausreichend vernunftgeleitete Gründe dafür gefunden werden können, dass sich mehrere Millionen Nutzer täglich unterschiedlichste Medien in Form von Dateien auf ihre PCs herunterladen und in gleichem Atemzug selbst wieder Anbieter von digitalisierten Inhalten werden. Seien dies nun Inhalte, die sie vormals im Netz gefunden haben oder Inhalte, die sie mitunter aufwändig selbst in eine computerlesbare Form gebracht haben, wie es etwa bei den Gesammelten Werken Theodor W. Adornos der Fall sein dürfte, die mittels Scanner und Texterkennung zur Datei geworden sind. Ob die Nutzer nun einer Art digitalem Mythos aufgesessen sind,15 wie ihn selbstredend gerade die Medienindustrie propagiert hat, oder ob sie – sei's unbewusst – das Pathos eines »digital common« pflegen, wie es Richard Barbrook als Antriebsfeder der Computernetzwerke versteht,16 sei dahingestellt. Beides wäre zu ergänzen um einen Sammeltrieb, der in dem auf der Festplatte zur Verfügung stehenden Platz vornehmlich einen Anreiz sieht, immer mehr Programme und Dateien anzuhäufen. So wird zu einer Freizeitbeschäftigung, was den Argumenten der Unterhaltungsindustrie zufolge ihr die Geschäftsgrundlage immer mehr dort entzieht, wo doch steigende Einnahmen erhofft worden sind: die Distribution von Musik, Film und Büchern mittels des Computers. Lukrativ ist dann das Geschäft nur noch für die Hersteller von Hardware, wenn über das Netzwerk jeder Computer potentiell selbst zu einem Distributionsmedium werden kann.

Was vormals in den CD- und Bücherregalen, den Fotoalben sowie den archivierten Video- oder DVD-Sammlungen in den Wohnungen seinen je eigenen Aufbewahrungsort hatte, wird unter dem einen Medienstandard des Computers nun nicht mehr räumlich voneinander getrennt. Eine solche Ordnung ließe sich aber in der Form von Verzeichnisstrukturen abbilden. Bei der neuesten Ausgabe des recht bekannten Betriebssystems der Firma Microsoft finden sich innerhalb des altbekannten Ordners Eigene Dateien inzwischen zur Bequemlichkeit der Nutzer bereits als Voreinstellung die Unterverzeichnisse Eigene Bilder und Eigene Musik. Hier wird eine Struktur reetabliert, die allerdings dem Organisationsprinzip von Dateien äußerlich ist. So bedürfte es der unterschiedlichen Verzeichnisse beileibe nicht und Material ließe sich sinnvoller thematisch ordnen denn als nach der zugeordneten Applikation. In gewissem Sinne thematisch funktioniert auch das Filesharing, das unter den Stichwörtern zur Suchabfrage alles auflistet, was vom Dateinamen oder aber von den enthaltenen Metainformationen das Suchwort enthält. Eine Suchanfrage zu Adorno fördert dementsprechend dessen Texte, Bilder von ihm, aber auch seine Kompositionen und Aufzeichnungen von Radiosendungen zutage.

Wie aber eine Obsession an diesem Unspezifischen entflammen kann, ist eine offene Frage. Leidenschaft erweckt meist nur das Einzigartige, zumindest Seltene, zu dem sich eine Art emotionale Beziehung seitens des Sammlers herstellen lässt. So wird schnell deutlich: Nichts verbindet den Sammler, wie ihn etwa Walter Benjamin beschreibt und dabei immer sich selbst im Blick habend mit dem »Sammler«, der unentwegt Dateien auf seinem Computer anhäuft.17 Wo sich jener, mit einem Worte Benjamins, als ein »Physiognom der Dinge« beschreiben ließe, stehen diesem keine Dinge, in denen er sich häuslich einrichten könnte, zur Verfügung. Wurde bereits von Audiophilen der Verlust von Sinnlichkeit beklagt, als die Langspielplatte der CompactDisc wich, so findet in Form der »Datei« auf dem Computer eine weitere Entmaterialisierung statt. Und doch manifestiert sich in den Sammlungen, den dinglichen und den undinglichen, eine Privatheit, die sich dazu eignet, als Ausgestellte die Subjektivität ihrer Sammlerin aufscheinen zu lassen. Dies vor allem anderen unterscheidet die Sammlung vom Archiv. Mag zwar die Vollständigkeit der Sammlung wie des Archivs implizit oder explizit Absicht sein, so hat eine Sammlung doch nicht diesen Zweck: »Die wahre, sehr verkannte Leistung des Sammlers ist immer anarchistisch, destruktiv. Denn dies ist ihre Dialektik: Mit der Treue zum Ding, zum Einzelnen, bei ihm Geborgenen, den eigensinnigen subversiven Protest gegen das Typische, Klassifizierbare zu verbinden.«18 Wo im Archiv eine objektive Ordnung erforderlich ist, gruppieren Sammlungen sich um ihr Subjekt, sie sind subjektiv im besten Sinne: »Das Phänomen der Sammlung verliert, indem es sein Subjekt verliert, seinen Sinn.«19

In diesem Sinne wäre bei den öffentlichen Ordnern der privaten Festplatten in den Filesharing-Netzwerken denn auch weniger vom Archiv zu sprechen, wie Florian Cramer vorschlägt,20 als von Sammlungen. In den Netzwerken herrscht die gleiche Ungeordnetheit, wie sie mitunter auf den Festplatten der angeschlossenen Nutzer vorzufinden ist. Einzig die Vorlieben des jeweiligen Subjekts entscheiden darüber, falls überhaupt, welche Ordnung den unterschiedlichen Dateien zukommt, indem es Verzeichnisse anlegt. Allerdings mangelt es solcherlei Sammlungen des manifesten Subjekts, denn dieses ist hinter der IP-Adresse, bestenfalls hinter einem selbst gewählten Nickname verborgen. So obliegt es einem selbst, ausgehend von den Sammlungen Mutmaßungen über die Person anzustellen, die diese verwaltet. So können sich die Sammlungen nur selbst erläutern, nicht aber ihre Sammlerin.

Wichtiger aber ist der Aspekt, dass das Filesharing eben die vollzogene Möglichkeit ist, Bestandteile fremder Sammlungen der eigenen einzuverleiben. Auch dies ein wichtiger Unterschied zu den materialen Dingen, denn Sammlungen von Dateien sind nicht notwendig exklusiv, sondern ermöglichen eine Vielzahl unterschiedlicher Sammlungen unterschiedlicher Personen, deren Bestandteile trotzdem identische Kopien sind.

In diesem Sinne lässt sich bei Dateien schwerlich vom »Einzelnen« reden, ist doch das Kopieren von Dateien grundlegendste Fähigkeit jedes Computerbetriebssytems, aber zumindest vom Seltenen, vergleicht man das Vorkommen etwa schönbergscher Kompositionen mit der Häufigkeit aktueller Popsongs. Deutlich bilden sich die Verhältnisse ab, wie sie auch außerhalb der Computernetzwerke bestehen. Das Seltene aber kommt zu seinem vollen Recht, denn es herrschen ja gerade nicht die strengen Gesetze von Angebot und Nachfrage.21 Während diese Marktmechanismen das Angebot etwa in den Plattenläden oder vor dem Fernsehbildschirm einigermaßen überschaubar halten, sind die Netzwerke für das Nicht-Typische und Nicht-Klassifizierbare zumindest offen. Filesharing ist in diesem Sinne anarchistisch: Nicht (nur), weil hier kostenlos getauscht und somit »Geistiges Eigentum« gewissermaßen enteignet wird, sondern weil hier der Popularität der distribuierten Inhalte keinerlei Rechnung getragen werden muss. Daran hängt auch die Freude am Stöbern in den Filesharing-Netzwerken, denn ähnlich einem Flohmarkt sind Überraschungen weitaus wahrscheinlicher als in den Musik- oder Buchabteilungen durchschnittlicher Kaufhäuser. Ähnlich ist dieses Stöbern auch einer »Wunschparade«, wie sie nach wie vor zu den gängigen Programmpunkten vieler Radiostationen gehören. Erst kramt man im Gedächtnis nach einem Musikstück, das man seit seiner Jugend nicht mehr gehört hat, um sich dann vor dem Computer auf die Suche danach zu begeben. Dies macht sicherlich einen der entscheidenden Glücksmomente aus, beim Stöbern auf dem Flohmarkt wie in den Netzwerken, dass man auf etwas stößt, dessen Existenz man längst vergessen hatte. Wie überhaupt das Erinnern eine der Antriebsfedern des Sammelns überhaupt ist: »Jede Leidenschaft grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen.«22 Nicht der Besitz als solcher bedeutet das Glück, sondern das Maß, in dem den Dingen Evokationskraft für die Erinnerungen zukommt. Hierüber verwandelt sich der ans Netzwerk angeschlossene PC zu einem »Kramladen des Glücks«, in ein Eldorado »für arme Sammler«23.

So finden sich dennoch Gemeinsamkeiten zwischen den »klassischen« Sammlern seltener Gegenstände und dem Sammler von Dateien: Hier wie dort ist das Finden, das dem Erinnern gleicht, ein Moment des Glücks und beide ähneln sich im Protest gegen das Klassifizierbare, d.h. die Ordnungsprinzipien sind idiosynkratische, der Welt gewissermaßen abgetrotzt. Auch gesellt sich hier wie dort dem Sammeln ein Moment des Bewahrens, des vor dem Untergang Errettendes bei, denn die Sammlerin streift den Dingen den Warencharakter ab, ihre Bedeutung erhalten sie einzig in ihrem Liebhaberwert, da die Dateien zwar getauscht werden, aber nicht unter der Maßgabe ihres Tauschwertes. Anders verhält es sich beispielsweise beim Kinofilm: Sicherlich exisieren nahezu unüberschaubare Archive privatwirtschaftlicher Institutionen, aber ebenso sicherlich muss Filmgeschichte immer auch als eine Geschichte des Verlustes geschrieben werden. Nach dem Ablauf der wirtschaftlichen Verwendbarkeit etwa eines B-Movies verschwindet oftmals auch das Interesse, sich um dessen Erhalt zu kümmern. Aber auch wenn Sammlungen öffentlich gepflegt werden, beinhaltet doch das Konzept des Bewahrens in einem musealen Sinn fast schon notwendig das Verdrängen und Vergessen, da immer entschieden werden muss, was wert ist, erhalten zu werden. Der Begriff des Verdrängens schließt aber auch – ganz freudianisch – die Wiederkehr des Verdrängten mit ein. Wo sonst, als in den Kellern und auf den Dachböden der Subjekte, heutzutage auf ihren Festplatten, wäre eine solche Wiederkehr des Verdrängten wahrscheinlicher. Frage wäre, ob denn nicht die vernetzten Computer, eben weil sie dezentral organisiert sind, dereinst so etwas wie ein kollektives Unbewusstes darstellen könnten, um das Bild vom P2P als »Es« wieder aufzugreifen. Dieses kollektive Unbewusste als kulturelles Gedächtnis wäre ein ganz anderes, als das musealisierte, da es weniger stabil, weniger tradierend funktioniert. Dieses Manko wäre aber auch eine Chance, denn das Abseitige, oder besser: das Marginale, dürfte bestehen bleiben, eben weil es nicht die Funktion des Tradierens, der Repräsentierens erfüllen müsste.

Die Rede vom Computer als Medium hat im Filesharing sicherlich eine nähere Bestimmung gefunden, da der Computer inzwischen – als wäre es schon immer seine Aufgabe gewesen – dazu verwendet wird, massenhaft Musik, Text und Film zu distribuieren. Dass mit dem Internet nun auch Privatpersonen in der Lage sind, vom Empfänger zum Sender zu werden, äußert sich derzeit noch weitgehend darin, dass diese in einer Art Selbstbedienungsmentalität sich nehmen und auch bereitstellen, was ihnen in einem juristischen Sinne nicht gehört. Das Potential aber ist vorhanden, mit dem Computer auch als »Werkzeug« kreativ zu werden und Vorgefundenes zu verwandeln anstatt bloß zu reproduzieren. Ob man dies als »Plagiarismus« bezeichnen möchte oder als legitime Aneignung kulturellen Gemeinguts, werden vermutlich die Gerichte zu entscheiden haben, da auch die teilweise Verwendung urherbebergeschützter Materialien und deren auch nicht-kommerzielle Veröffentlichung in eigenen »Dateien« untersagt ist.


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