Harald Hillgärtner


Kulturrecycling auf Knopfdruck

Flussers Utopie der telematischen Gesellschaft

»Wenn ich über eine Videothek verfüge, wozu sollte ich dann zehn Paar Schuhe im Schrank aufheben wollen?«1

Dass sich für jedes neues Medium recht schnell Fürsprecher ebenso wie Kritiker einfinden, ist eine alte Tatsache, und sind die jeweils neuen Medien erst einmal in den Alltag integriert, so kann man sich mitunter nur noch über die Warnungen wundern, mit denen sie in ihrer Entstehung konfrontiert wurden. Was den Computer als Medium und mit ihm das Internet anbelangt, so ist dessen Neuheit noch aktuell genug, um jederzeit Kontroversen zu provozieren. Insbesondere aber lädt der Computer zu Spekulationen ein, die das Ende einer (Medien-)Epoche und die Heraufkunft einer künftigen proklamieren. Dies ließe sich auf die lakonische Formel bringen: »In jeder Epoche technologischer Umwälzung erneuert sich die Metaphysik ...«.2 Zwei der aus medientheoretischer Sicht interessantesten Vertreter solcher Spekulation sind fraglos Marshall McLuhan und Vilém Flusser. Letzterer soll im Zentrum dieses Aufsatzes stehen, da, wenn es um »Metaphysik« des Computerzeitalters gehen soll, kaum ein Weg an ihm vorbei führt. Als besonders interessant erscheint mir ein Gestus Flussers, der dazu auffordert, Geschichte willkürlich umzuschreiben, diese gleichsam nur noch als einen Steinbruch zu erachten, um aus ihr neue, überraschende und informative Informationen zu generieren. Hierbei entsteht die Vision eines telematischen3 Schauspiels, in dem jedes geschichtliches Ereignis, jede Theorie, jede Ideologie, jedes Kunstwerk mit jedem anderen zu technischen Bildnern amalgamiert werden kann. Dies versucht Flusser mit Beispielen zu illustrieren, die merkwürdigerweise Flussers eigenen Kategorien des »Geredes« oder des »Kitsches« zu widersprechen scheinen, indem sich Kitsch ebenso an der Kulturgeschichte wahllos bedient. Während aber Kitsch für Flusser eine Weise ist, »gemütlich zu sterben«, wäre seine Utopie einer telematischen Gesellschaft von Unsterblichkeit gekennzeichnet. Zu Fragen wäre dementsprechend, ob die anvisierte telematische Gesellschaft wirklich lebenswert wäre, zumal Flusser in dieser Hinsicht selbst von Zweifeln beschlichen wird.4 Eins steht in jedem Falle fest: die von Flussers entworfene Zukunft unterscheidet sich radikal von der Gegenwart.

Insbesondere der 1986 erschienene Essay Ins Universum der technischen Bilder verfolgt entschieden die Absicht, »gegenwärtige Tendenzen«5 in die Zukunft zu »synthetisieren«. Ausgegangen wird von dem von Flusser selbst definierten Begriff der »technischen Bilder«, die beginnen, immer mehr an die (epistemologische) Stelle von Texten zu treten. Um dies als eine Art Telos der Geschichte erscheinen zu lassen, formuliert Flusser ein Stufenmodell der Medienentwicklung, das von der Plastik über das (traditionelle) Bild, die Schrift bis hin zu den technischen Bildern reicht. Er verknüpft dies mit dem Hinweis, dass hierbei die Gegenstände immer »abstrakter« werden. Dies muss zwar erstaunen, erscheinen doch die technischen Bilder, die Flusser mit der Fotografie beginnen lässt, als überaus konkret, doch bezieht dieses Modell seine Eleganz aus einer anderen teleologisch anmutenden Konstruktion: Der Weg von der Plastik bis zu den technischen Bildern führt über eine Verringerung der in ihnen enthaltenen Dimensionen. Folgt der konkreten zeiträumlichen Vierdimensionalität des Menschen die Dreidimensionalität der Skulptur, dieser die zwei Dimensionen des Bildes und die Linie der Schrift, so haben sich die Dimensionen bei den technischen Bildern vollständig verflüchtigt. Technische Bilder sind »nulldimensional«, da sie aus Punkten zusammengesetzt sind. Letzteres ist unter anderem auch eine entscheidende Gemeinsamkeit von Fotografie und Bildern auf dem Computermonitor: beide haben eine Auflösung.6 Aus dieser Analogie in der technischen Struktur bezieht Flusser die Berechtigung, sowohl bei Fotografien als auch bei Computerbildern von Synthesen »herumschwirrender Punktelemente« zu sprechen, zumal es bei dieser Raffung von Punktelementen eines Apparats bedarf. Ob dies nun eine Foto-, Film- oder Videokamera ist oder ein Computer, spielt keine Rolle mehr7, denn ist erst einmal diese – nicht zuletzt phänomenologische – Analogie hergestellt, so kann in einem weiteren Schritt auch die ontologische Gemeinsamkeit von Fotografie und digitalem Bild behauptet werden. Flusser stellt zu diesem Zweck die These auf, dass traditionelle Bilder, deren Kennzeichen es ist, von Subjekten und nicht von Apparaten hergestellt worden zu sein, versuchen, die Welt zu erklären. Im Gegensatz zu diesen ist hingegen Sinn und Zweck der apparativ erzeugten Bilder eine »Umkehrung der Bedeutungsvektoren«. Nicht mehr steht die Welt Modell für das Bild, sondern die Bilder (in)formieren die Welt, so wie der Schuster ein Stück Leder »informiert«, um aus ihm einen Schuh zu machen: »Die technischen Bilder stellen nicht etwas dar [...], sondern sie projizieren etwas. Das von den technischen Bildern Bedeutete [...] ist etwas von Innen nach Außen Entworfenes [...], und es ist dort draußen erst, nachdem es entworfen wurde.«8 Vorbild hierfür ist, dass ein Ingenieur heutzutage etwa ein Flugzeug zunächst am Computer konstruiert, um hernach dieses Modell in die Wirklichkeit umzusetzen. Das Bild als Modell erzeugt den Gegenstand, der dann abbildbar ist: »Zwischen Abbild und Modell unterscheiden zu wollen, ist auf dem Gebiet der technischen Bilder ein verlorenes Unterfangen. Denn von welcher Art auch immer, sie sind nicht reproduktive, sondern produktive Bilder.«9

Beachtenswert ist, wie unter dem Eindruck der Computerentwicklung hier eine ganz andere »Philosophie der Fotografie« geschrieben wird, wie sie etwa von Siegfried Kracauer vier Jahrzehnte vorher formuliert wurde. Kracauers »Ästhetisches Grundprinzip« scheint auf den Kopf gestellt. Nicht mehr im »Buch der Natur« zu lesen ist primäre Aufgabe des Fotografen, sondern es gilt, mit dem Apparat »unwahrscheinliche« Bilder zu erzeugen. Für Flusser nämlich neigen die Apparate in ihrer »sturen Automatizität« dazu, Redundanz zu produzieren. Um dieses den Apparaten innewohnende Programm aufzuhalten, braucht es den Eingriff des Fotografen, der den Apparat an unvorhersehbaren Punkten anhält, indem er auf den Auslöser drückt. Der Eingriff des Fotografen ist also notwendig ein »Information« erzeugender, er ist produktiv. Aus diesem Grunde bezeichnet Flusser die Fotografen auch als »Einbildner«, da ihre Leistung eine ganz andere ist, als die einer vollautomatischen Kamera.10 Zwar erzeugt auch diese Information, allerdings eine höchst vorhersehbare. Um es als Polarität zu fassen: Das Ideal bei Kracauer wäre es, die Dinge selbst sprechen zu lassen, bei Flusser hingegen, die Dinge zu sprechen. Wie auch immer, in der Fotografie scheint jedenfalls ein Art Aporie verborgen: »Die paradoxe Leistung des photographischen [...] Mediums besteht gerade darin, daß es die Vorgegebenheit eines exakt abbildbaren Referenten voraussetzt, den es allererst hervorbringt. [...] Die technische Apparatur der Kamera macht die optische Erscheinungswelt photographierbar, d.h. das an ihr optisch-technisch Reproduzierbare sichtbar. Insofern handelt es sich nicht um eine Re-Produktion, sondern um die Produktion von Reproduzierbarkeit.«11 Wie bereits erwähnt, interessiert Flusser der Referent, der ja conditio sine qua non der Fotografie ist, nicht mehr. Begründet liegt dies nicht zuletzt darin, dass für ihn eine Welt der Phänomene schlicht nicht mehr hinter ihren Symbolisierungen wahrgenommen werden kann, nicht mehr existiert. Hierfür führt er keine erkenntnistheoretische, sondern vielmehr eine Art »erkenntnishistorische« Begründung an: Aufgrund der Fortschritte der Naturwissenschaften und aufgrund des Abhandenkommens aller Ideologien zerfiel die Welt in »Punktelemente«, die nur noch mittels Apparate greifbar gemacht werden können.

Dieser Gedanke, den man auch unter Max Webers Stichwort von der »Entzauberung der Welt« fassen könnte, und der auch eine wichtige Rolle in Kracauers Theorie des Films spielt, wird für Flusser zum (apokalyptischen) Ausgangspunkt, die Welt in ihrer vorherrschenden Abstraktheit als absurde gänzlich zu negieren. An deren Stelle sieht er das »Universum der technischen Bilder« treten. Diese Bilder lassen sich, wie erläutert, an keinem materiellen Referenten mehr messen, allerdings auch an keinem geschichtlichen, denn auch Geschichte ist mit dem Abdanken der Schrift als epistemologisches Leitmedium zu ihrem Ende gekommen: »Lineare Texte haben ihre dominante Stellung als Träger der lebenswichtigen Informationen nur etwa viertausend Jahre lang eingenommen. Nur etwa für jene Dauer also, die, im genauen Sinne des Wortes, ›Geschichte‹ genannt wird. [...] Die linearen Texte haben im Dasein der Menschheit nur eine vorübergehende Rolle gespielt, die ›Geschichte‹, war nur ein Zwischenspiel«.12 Mit der Proklamation des Endes der Schrift lehnt sich Flusser deutlich an seinen Vorgänger Marshall McLuhan an, und ebenso wie dieser verbindet er mit ihrem Ende eine Art Kommunion der Menschheit, die nun auf gänzlich neue Weise miteinander kommuniziert.13 Das Ende der Schrift und mit ihr der Geschichte soll aber nicht als Regression in einen vorgeschichtlichen, mythischen Zustand, verstanden werden, sondern vielmehr als ein »Emportauchen« in eine »nachgeschichtliche« Welt: »Daher haben wir die Kriterien ›wahr/falsch‹, ›echt/künstlich‹ oder ›wirklich/scheinbar‹ aufgeben müssen, um statt dessen das Kriterium ›konkret/abstrakt‹ anzuwenden.«14 Was Flusser hier vorschwebt, ist eine Informationsgesellschaft, in der es zwar, wie heute, noch Apparate, noch Computer gibt, aber keine Körper mehr. Diese werden weitestgehend abgeschafft, sie schrumpfen, und ihre vitalen Funktionen werden an Maschinen delegiert.15 Das Emportauchen ist auch eines in eine »reine« Informationsgesellschaft ohne materiellen Ballast.

Was wie Science-Fiction klingt, und es selbstverständlich auch ist, hat zur Absicht, das Feld für eine Gesellschaft zu bereiten, die erst wirklich als »human« bezeichnet werden kann, in der es kein Leiden mehr gibt und in der das Leben zu einem fortwährenden »zerebralen Orgasmus« wird.16 In dieser Zukunft nun sitzen (nahezu körperlose) Subjekte vor Terminals und sind damit beschäftigt, Informationen zu synthetisieren:

»Drücke ich zum Beispiel auf bestimmte Tasten, so wird mir alle Vergangenheit zur Gegenwart gemacht: Ich kann bei der Gründung Roms, bei der Entdeckung Amerikas oder bei den Öfen von Auschwitz dabei sein. Zwar weiß ich, daß ich Videoplatten und nicht das Ereignis selbst sehe, aber ich weiß auch, daß ich es weit konkreter sehe, als dies früher aus Geschichtsbüchern der Fall war. Denn wenn ich mit einem geschehenen Ereignis nicht einverstanden bin, brauche ich nur auf einige weitere Tasten zu drücken, um es zu verändern: Statt von Kolumbus lasse ich Amerika von Platon entdecken. Denn es gibt ja keine Geschichte mehr, es gibt nur noch eine im Gedächtnis verfügbare und also gegenwärtig gewordene Vergangenheit. [...] Alle Informationen stehen mir zur augenblicklichen Verfügung. Ich kann, bei entsprechendem Tastendruck, die Kathedrale von Reims mit dem Lincoln-Center zusammenmischen und hieraus neue Informationen synthetisieren. Oder ich kann die von Jesus verwendeten Gleichnisse in Bilder übersetzen und sie mit Bachschen Kantaten zur Deckung bringen. Kurz, das ganze Universum steht mir an meinem Terminal als eine gigantische Spielwiese bereit.«17

Flusser stellt sich dieses Synthetisieren von Informationen in Form technischer Bilder als einen interaktiven Prozess vor, an dem prinzipiell alle am Netzwerk angeschlossenen menschlichen und maschinellen Intelligenzen teilnehmen können, wobei Fragen nach Autorschaft oder Urheberschaft keine Rolle spielen. Gedacht wird dies als eine Art Dialog. Wichtig ist an dieser Stelle sein Hinweis, dass das Universum zur Spielwiese wird. Der von Flusser an Stelle des Homo Sapiens apostrophierte Homo Ludens wäre erst der im eigentlichen Sinne zur »Theorie« befähigte Mensch: »Den spielenden Umgang mit den Modellen, die in zwischenmenschlicher Interaktion zur Anschauung gelangen, wie auch die elektronisch-telematischen Bilder sieht er transparent werden auf das menschliche Antlitz hin. Das Kalkulieren und das Komputieren wird zum Gleichnis schöpferischer Synthese. Die durch sie neu gefundenen Bilder sind Theorie im ursprünglichen Sinne: ein zeitweises Zurücktreten des Individuums, Zurücktreten vor dem unmittelbaren Alltagsleben in die Schau«18. Ohne auf die gemeinsamen etymologischen Wurzeln von »Theater« und »Theorie« eigens hinweisen zu müssen, wird deutlich, dass Flusser an dieser Stelle im wörtlichen Sinne ein »Schauspiel« beschreibt: Dem Betrachter vor dem Terminal stellt sich die gesamte Welt – gar das gesamte Universum – auf Knopfdruck in Form technischer Bilder dar, »ein universelles Schauspiel als Zusammensetzspiel von winzigen Vorstellungen.«19 Er betrachtet ein Spiel, synthetisiert aus (reinen) Informationen. Es ist dies allerdings ein Schauspiel ohne Regisseur, in dem die teilnehmenden Individuen nach dem Modell der »Kammermusik«20, bei der Musiker zusammenkommen, um anhand einer Partitur zu improvisieren, selbst schöpferisch werden. Die Partitur wäre etwas ursprüngliches, die Improvisationen hierauf werden aufgezeichnet und dienen wiederum folgenden Improvisationen. Die Betrachter werden selber zu Schauspielern, nicht indem sie als Personen in einem Schauspiel agieren, sondern indem sie an einem Schauspiel mitspielen.

Liest man Flussers Texte aufmerksam und achtet man auf die Beispiele, die er verwendet um seine Utopie eines Dialogisierens in technischen Bilder anschaulich werden zu lassen, so wird deutlich, was er sich als die Partitur vorstellt, anhand derer improvisiert werden soll. Man könnte dies als Kulturerbe bezeichnen. Alles kann Thema werden, um neu in Szene gesetz zu werden: »Hätte es zur Zeit der Schlacht im Teutoburger Wald [...] synthetisierbare Bilder gegeben, man hätte diese Schlacht jeden Abend anders schlagen können.«21 Wenn Walter Benjamin im Kunstwerkaufsatz den Film als machtvollsten Agenten einer kathartischen »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe«22 bezeichnet, so wird dies von Flusser aufgegriffen und noch einmal radikalisiert.23 Ähnlich Benjamin sieht Flusser in der Reproduzierbarkeit und der damit einhergehenden Depravierung des Begriffs der »Echtheit« ein neues Zeitalter des Umgangs mit der Tradition, der Geschichte, eingeläutet.24 Für Flusser stellt Geschichte, nachdem sie erst einmal durch das Ende der Schrift und mit ihr dem Ende der linearen Denkweise nicht mehr auf Wahrheit oder »Echtheit« verpflichtet ist, nur noch eine Art Requisitenkammer dar, mit der Geschichte neu inszeniert werden kann. So wäre in der telematischen Gesellschaft problemlos möglich, was gegenwärtig von Alexander Demandt in seiner Abhandlung über Ungeschehene Geschichte über weite Strecken überhaupt als sinnvolles Gedankenspiel verteidigt werden muss. Wenn in dieser Abhandlung die konkreten Beispiele für Was wäre geschehen, wenn ...? relativ wenig Raum einnehmen, dann liegt dies eben daran, dass Flussers telematische Gesellschaft Utopie ist. Das Interessante an Demandts Abhandlung aber sind besagte Beispiele. Besonders beeindruckend jedenfalls das entwickelte Szenario, das hätte eintreten können, wäre Alexander der Große nicht bereits in jungen Jahren gestorben, Christentum und Islam hätte es nicht gegeben, die damit einhergehenden gewaltsamen Konflikte ebenso wenig und Atlantis/Amerika wäre bereits von Hannibal entdeckt worden: »Die [...] Entwicklung vollzieht sich in Form einer allmählichen Erschließung der bewohnten Erde. Auf überwiegend friedlichem Wege treten immer mehr Staaten dem ökumenischen Koinon bei, ein weltweiter Hellenismus und Humanismus breitet sich aus.«25 Im Gegensatz dazu steht eine andere Alternative, wäre die ungeschehene Geschichte geschehen: »Hier sitzt Toynbee an einem Schreibtisch als Stipendiat Alexanders LXXXVI. und denkt darüber nach, was wohl geschehen wäre, wenn Alexander III. damals in Babylon gestorben wäre. Die reale Geschichte erscheint nun als hypothetische Alternative. Und sie ist wenig verlockend.«26 Freilich sind die Projekte Demandts und Flussers denkbar weit unterschieden, obschon beide von einer Maschine träumen, die sämtliche Vergangenheit für die Gegenwart zur Verfügung hält.27 Demandt verfügt als Historiker jedoch über umfangreiche Kenntnisse der Geschichte und entwickelt seine Planspiele nach der Maßgabe von Wahrscheinlichkeiten, das telematische Subjekt Flussers hingegen bedient sich willkürlich an der Geschichte, Maßgabe ist nicht Wahrscheinlichkeit, sondern im Gegensatz Unwahrscheinlichkeit, denn schließlich sollen die synthetisierten Informationen überraschen.

Im Überraschenden aber liegt der entscheidende Unterschied, der aus Geschichtsrecycling entweder Information oder Kitsch werden lässt. Kitsch ist für Flusser ein aus Abfällen hergestelltes Produkt und obschon er dieses Phänomen als äußerst interessant erachtet, wird er doch nicht ins Positive gewendet; leicht zu ersehen daran, dass er Kitsch in dem Aufsatz Gespräch, Gerede, Kitsch mit einem Beispiel illustriert, dem seine ganze Verachtung gilt, dem Nationalsozialismus: »[H]alb verbrauchter Nationalismus, Sozialismus, halb verbrauchte Mythen, Wissenschaftshypothesen und Geschichtshypothesen werden zusammengeklebt, um den Eindruck von etwas Neuem zu erwecken und dabei doch leicht verdauliche Klumpen zu bilden.«28 Der Nationalsozialismus ist zwar eine besonders wirksame (und mörderische) Form des Kitsches, da er es versteht, »in verschiedenen, sich überlagernden Schichten des Abfalls zu wühlen und die dort vorgefundenen Objekte zu Kitschobjekten zusammenzukleben«29, aber er ist Kitsch. Der Rohstoff des Kitsches, der Abfall, ist übrigens im Sinne Flussers zweischneidig: Zum einen ist Abfall sehr wohl wörtlich als stofflich-dinghaft zu verstehen, zum anderen ist Abfall aber auch halbvergessene und/oder redundant gewordene Information. Es wird nicht zwischen einer metaphorischen und einer nicht-metaphorischen Verwendungsweise des Begriffs unterschieden, zumal bisher laut Flusser alle Informationen materiellen Gegenständen eingeprägt werden mussten, um erhalten zu werden.30 Überhaupt ist alles Kulturschaffen des Menschen darauf ausgerichtet, die Natur zu formen, zu »Informieren«. Kultur entsteht aus informierter Natur und ist beständig im Vergehen begriffen, aus Kultur wird wieder Natur mit dem Zwischenprodukt des Abfalls. Kitsch ist der Versuch, diesen Abfall wieder in die Kultur zu injizieren, zu rezyklieren.31 In Flussers Utopie eines Universums der technischen Bilder aber, in dem die materielle Welt weitestgehend obsolet geworden ist und in der »unterlagenlose ›reine‹ Informationen«32 möglich geworden sind, gibt es keinen Abfall mehr: »Der Zirkel ›Natur-Kultur-Abfall-Natur‹ wird sich in der Kultur, nicht im Abfall stauen.«33 Ohne Abfall wird es auch keinen Kitsch mehr geben.

Nun ist es meines Erachtens nicht sehr leicht einzusehen, wie sich die in den technischen Bildern synthetisierten Informationen vom Kitsch unterscheiden. Flusser versucht hierauf eine Antwort zu geben, indem er zwischen Gespräch und Gerede unterscheidet, wobei ersteres neue, unwahrscheinliche Informationen erzeugt, letzteres hingegen wahrscheinliche Informationen, also Redundanz. Gerede ist keine Kommunikation, sondern »Pseudokommunikation«34, und damit im Wesentlichen das, was gegenwärtig in den Massenmedien erzeugt wird, die keine Möglichkeit des Dialogs zwischen Sender und Empfänger bereitstellen. Gerede, ebenso wie Kitsch, hat das Vergessen und mithin das Einverständnis mit dem Tod zum Ziel: »Nicht mehr Informationen sollen erzeugt und weitergegeben werden, [...] sondern im Gegenteil sollen Informationen zerredet werden, um vergessen zu werden. [...] Im Grunde ist daher Kitsch eine Methode, angesichts der Absurdität des Menschseins gemütlich zu sterben«.35 In der vollendeten telematischen Gesellschaft werden entgegen der heutigen Situation die Medien nicht mehr »faschistisch«36 geschaltet sein. Die Massenmedien werden kein Gerede mehr verbreiten, sondern zwischen den Individuen werden »dialogische Fäden« gesponnen mit dem Resultat, dass »alle kompetent werden, aus Redundanzen Informationen zu machen.«37

Doch zurück zur Ausgangsfrage: Wie wird aus den »Redundanzen« der bachschen Kantanten in Verbindung mit neu-testamentarischen Gleichnissen eine überraschende Information? Warum ist »ein ›katholisch-freudianisch-marxistisches‹ Modell«38 kein Kitsch? Kann es sein, dass Flusser selbst nicht weiß, wie telematisch synthetisierte Bilder aussehen könnten? Jedenfalls behauptet Flusser in Hinsicht auf die technischen Bilder, dass die gegenwärtigen Menschen noch nicht in der Lage sind, sie zu verstehen39, auch dies übrigens eine Parallele zu Benjamin, für den die Fotografie der Beschriftung bedarf, solange sie noch nicht von den Individuen entziffert werden können40. In diesem Sinne wären die von Flusser ersonnenen Beispiele einer Bildsynthese in der telematischen Zukunft eine Hilfskonstruktion, die das Spielerische der künftigen Bilder vor Augen führen kann, nicht jedoch deren Neuheit. Der Unterschied zwischen dem Kitsch des Nationalsozialismus und den technischen Bildern in der telematischen Gesellschaft wäre derweil – solange diese Bilder schlicht unvorstellbar sind – woanders zu suchen: in der Ethik. Denn eins steht fest: »Vilém Flusser sah im Totalitarismus des 20. Jahrhunderts und an dem Tiefpunkt des Holocaust eine der Möglichkeiten des Programms der westlichen Zivilisation negativ verwirklicht. Seine Schriften in ihrer Gesamtheit lesen sich dagegen wie eine entgegengesetzte Alternative, wie eine radikal andere Möglichkeit, der missglückten Realisation mit dem Endpunkt Auschwitz entgegenstehend.«41

Wie gesagt: Verschiedene zentrale Thesen Flussers sind nur schwer einzusehen.42 Daneben, dass der Fotografie jedwede Indexikalität abgesprochen wird, daneben, dass das Ende der Schrift prophezeit wird, muss auch Flussers Ausrufung der »Nachgeschichte« besonders irritieren.43 Betrachtet man jedoch Flussers Utopie als Projekt, einem Wunsch Ausdruck zu geben, dem Wunsch, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, lesen sich seine Texte anders. Dann wird deutlich, dass es nicht bloß um das Bereiten einer »Spielwiese« geht, sondern tatsächlich um eine lebenswerte Zukunft, in der Auschwitz als Möglichkeit ausgeschlossen ist, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist in der telematischen Gesellschaft »Geschichte« jederzeit zu revidieren, der nationalsozialistische Völkermord könnte schlicht ungeschehen gemacht werden, selbstredend gar die gesamte Barbarei des Faschismus. Zum anderen aber, und weit konsequenter, ist es Absicht der flusserschen Texte, die Medien insgesamt umzukrempeln: »Alle vortelematischen Bilder [...] sind diskursive, ausgesandte, gegen den anderen entworfene, sein Antlitz verdeckende Bilder. Sie sind verboten. [...] Die telematischen, dialogisch synthetisierten Bilder hingegen sind ›Medien‹ von Mensch zu Mensch, durch welche hindurch ich des Antlitzes des anderen ansichtig werde.«44 Medien wären in diesem Sinne ein Mittler, mit dessen Hilfe sich die Menschen untereinander näher bringen, wobei damit ein »neuer Begriff der Nächstenliebe« entstehen würde.45 Diese Nähe nun würde Auschwitz bereits von vornherein verunmöglichen. Die telematische Gesellschaft gebiert also keine omnipotenten Subjekte, sie ist keine Allmachtsphantasie, sondern in ihr sind die Menschen im besten Sinne füreinander engagiert.


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