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Unterabschnitte

etoy: leaving reality behind ...

"unlike most internet stocks, etoy.SHARES have actually paid massive dividends in the form of art and fun. i feel i've already received a return on my principle and everything else is pure upshot. etoy continues to beat analysts expectations on reach and retention. solid products, strong marketing and first mover advantage in the hype management sector have put etoy in the lead. i would rate etoy.SHARES a strong BUY".1

Besucht man gegenwärtig die Homepage der Netzkunstgruppe etoy, so ist man konfrontiert mit einer Reihe sich horizontal über den Computermonitor bewegenden, orangefarbenen Rechtecke, jedes beschriftet mit dem Markennamen "www.etoy.com" (Abb.23). Zeigt man mit der Maus auf diese Elemente, so entbergen sich Schlagwörter wie "Shop", "Businessplan", "Newsroom" oder "Shareholders". Im Zentrum der Webseite steht dabei die Abbildung einer Kreditkarte mit dem Schriftzug "Invest". Dem Besucher bietet sich eine perfekt gestylte Oberfläche, welche - das meint man sofort zu erkennen - der Internet-Auftritt eines professionellen Unternehmens ist.

Jedes dieser Schlagworte ist ein Hyperlink und führt zu weiteren Webseiten mit Texten, die etwa Antwort liefern auf die Frage "why invest in etoy.SHARES?", oder zu Grafiken über den aktuellen Kurs der etoy-Aktien (Abb.24), in Verbindung mit der Möglichkeit, etoy-Aktien online zu erwerben. Massiv wird Werbung für die Firma betrieben, es findet sich ein "Businessplan"2, ein Pressespiegel3 und eine "Timeline", welche die Erfolge und Misserfolge der etoy.CORPORATION in Form eines Aktienkurses darstellt (Abb.25). Liest man sich ein wenig die dargebotenen Texte durch, wird allerdings recht schnell klar, dass es sich bei etoy nicht um eine E-Commerce Firma unter anderen handelt, da ihre Dienstleistungen "reality twisting, market design, artistic confusion and mind extension" umfassen.4

Ist man bereits ein wenig mit dem Konzept von etoy vertraut, so durchschaut man schnell das geschäftige Treiben der orangenen Rechtecke auf dem Computermonitor als die für etoy oligatorischen Container, welche sich in wechselnder Geschwindigkeit von links nach rechts, von oben nach unten und umgekehrt bewegen. Diese Container sind eine Weiterentwicklung ihres "Tanksystems" aus den Jahren 1996-1998, welches das Konzept ihrer damaligen Internet-Site ausmachte (Abb.26). Das etoy.TANKSYSTEM ist zu verstehen als eine Transformation physischen Raums in den virtuellen Raum des Internet. Zu finden sind dort Räumlichkeiten wie etwa ein Supermarkt, eine Galerie oder ein Büro, von denen jeder Raum seine eigene Funktion, seinen eigenen Inhalt hat.5 Die Räume existieren nicht isoliert, sondern sind durch Rohrleitungen miteinander verbunden, navigiert wird zwischen ihnen mit Hilfe von Buttons, welche wie Cursor-Tasten einer Computertastatur organisiert sind. Zudem ist durch den "Hyper-Button" prinzipiell jeder Raum mit allen anderen verbunden. Die Räume verhalten sich wie Websites, auch hier steht jede in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Websites, die auf geographisch weit entfernt liegenden Servern abgelegt sind. Dargestellt ist eine zunehmend vernetzte Welt, ein Zustand, wie er von Reinhold Grether in dem Begriff vom "Weltcode" gefasst werden soll: "Prinzipiell wird jeder physische Weltpunkt informatisierbar und damit weltweit ansteuer-, kontrollier- und veränderbar. Die Netzarchitektur [...] generiert eine globale Matrix virtuell-physischer Penetrationen."6

Solche "Pentrationen", die Verwirrung der Grenzen zwischen Realität und Virtualität, sind geradezu Konzept von etoy. So wie das Tanksystem reale Räume zur Basis seiner virtuellen Präsentation nimmt, so existieren solche "Tanks" seit 1998 auch wiederum in der Realität. Allerdings sind sie keine Immobilien, sondern können als "Mobilien" zum Beispiel innerhalb einer Frist von zwei Wochen von San Francisco nach Zürich transferiert werden. Als Metaphern stehen die Frachtcontainer für TCP/IP-Datenpakete,7 sie sind Rückprojizierung eines wesentlichen Konzeptes des Internet in den physischen Raum. In diesem Sinne können zwei Richtungen in der Strategie von etoy beschrieben werden: "1.) Sie importieren Realitätskonzepte wie 'Person' und 'Raum' ins Netz und setzten sie unter Reformularisierungszwang. 2.) Sie exportieren Netzkonzepte in die Realität zurück und beobachten, welche Wirkung sie dort entfalten."8 In der Tat liegt die Verbindung von standardisierten Datenpaketen und normierten Frachtcontainern auf der Hand, wird doch bei beiden das Problem des heterogenen Inhalts durch die Verpackung und die Adressierung obsolet und stehen doch beide für ein hohes Maß an Mobilität und globalisierter Verfügbarkeit. Wie bei Datenpaketen und Frachtcontainern ist der Inhalt der vier etoy.TANKS sehr unterschiedlich und fungibel. Ausgestattet mit Elektrizität, Sauerstoff und einer Klimaanlage dienen sie als Büro, Lagerraum, Aufnahmestudio, Labor, Internet-Server oder einfach als Schlafraum: "a package to host, hide, protect and transport etoy.AGENTS and etoy.INFRASTRUCTURE worldwide."9

Die etoy.TANKS sind also eine Weiterentwicklung des vormalig rein virtuellen etoy.TANKSYSTEM, sie besitzen hohen Wiedererkennungswert und bilden für die Künstler einen Teil der "Corporate Identity".10 Vor etoys Wandlung zu einer Aktiengesellschaft hatte auch das vollkommen homogene Outfit der menschlichen "Komponenten" der Künstlertruppe eine solche Funktion. Im gleichen Farbton wie die Container gehaltene Overalls und kahlgeschorene Schädel in Verbindung mit einer unter allen Umständen gewahrten Anonymität verunmöglichten die eindeutige Identifizierung einzelner etoy-Agenten.11 Ebenso wie bei Frachtcontainern und Datenpaketen kann bei den etoy-Agenten nicht auf ihren "Inhalt" geschlossen werden, sie dienen nur noch als Medium für einen Inhalt. Sie besitzen keine Identität, sondern stellen sich in den Dienst der "Corporate Identity".

Der Schritt von der "Personengesellschaft" zur "Aktiengesellschaft" im Januar 1998 bedeutete mithin einen Schritt in Richtung einer noch größeren Fungibilität. Indem die 640 000 Aktien der etoy.CORPORATION inzwischen von ungefähr 2000 Anteilseignern12 gehalten werden, welche mittels ihres Stimmrechts auch die Kontrolle über das Unternehmen ausüben, gibt es keine eindeutig lokalisierbare verantwortliche Instanz mehr. Geführt wird die Gesellschaft zwar vom etoy.MANAGEMENT, dieses wird jedoch von den Anteilseignern eingesetzt. Notwendigerweise steht also der Kurswert der etoy.SHARES im Vordergrund: "the only goal of the etoy.CORPORATION is to increase the etoy.SHARE-VALUE through revolutionary incubations in the field of action entertainment design, special effects coding, music production, cultural logistics, social engineering/interaction, and art."13

Der sogenannte Shareholder-Value ist im Prinzip das Stichwort für die Art und Weise, in der etoy rezipiert werden möchte und wohl auch, woran sie Kritik üben. Besonders deutlich kristallisiert sich dieses Konzept im "Toywar" heraus. Da allerdings dieser eine Gemeinschaftsproduktion unter anderem mit RTMark darstellt, wird erst später, nachdem auch RTMark vorgestellt worden ist, auf den Toywar einzugehen sein. Zunächst soll eins der erfolgreichsten "Produkte" etoys, der preisgekrönte "Digital-Hijack" beschrieben werden, da dieses Produkt den Bekanntheitsgrad von etoy und hiermit auch den Shareholder-Value in die Höhe schnellen ließ: "Digital Hijack war eine Aktion, die wegen Überlastung des Servers bei mehr als 600'000 Entführten - bis zu 17'000 pro Tag - gestoppt werden mußte."14

Digital Hijack

Der Entschluss zur Durchführung einer digitalen Entführung wurde bereits im Dezember des Jahres 1995 gefasst. Kern des gesamten Konzepts war die Infiltrierung von Internetsuchmaschinen mit falschen Informationen. Zu diesem Zweck entwickelten etoy ein Script,15 dem sie den Namen "Ivana" gaben. Ivana war eine Art Software-Roboter, da sie automatisch ihre Aufgaben ausführte. Sie war in der Lage, selbstständig Begriffe, wie beispielsweise Porsche oder Porno, aus dem Internet aufzugreifen und diese in einem nächsten Schritt auf ihre Platzierung in diversen Suchmaschinen hin zu untersuchen. Die zwanzig besten Suchergebnisse zu einem Begriff wurden dann daraufhin analysiert, welche spezifischen Wortkombinationen eine hohe Platzierung in den Suchmaschinen erwarten ließ. Diese so gewonnenen Kombinationen aus Stichwörtern wurden nun in einer HTML-Datei zusammengefasst, auf den etoy-Server gestellt und mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden diese Internetseiten von den Suchmaschinen auch wieder unter den besten zwanzig Suchergebnissen aufgeführt.

Effekt war, dass ein Internetbenutzer etwa bei der Eingabe des Suchbegriffs "Porsche" in einer Suchmaschine eine der etoy-Seiten als Treffer erhielt. Wählte er nun diese Seite aus, landete er nicht dort, wo er eigentlich hin wollte, sondern er wurde Opfer einer Entführung. Als erstes erschien ein schwarzer Hintergrund mit grünen ASCII-Zeichen, in dessen Zentrum zu lesen war: "Don't Fucking Move. This is a Digital Hijack". Dieses Fenster blieb allerdings nur wenige Sekunden zu sehen, bevor man zur etoy-Website weitergeleitet wurde, auf der während der Aktion in der Zeit vom 31. März bis 31. Juli 1996 ein Aufruf zur Befreiung von Kevin Mitnick vorzufinden war.16 Da sich die Betreiber der Suchmaschinen natürlich gegen diese Form des Missbrauchs zur Wehr setzten, kann inzwischen nur noch eine "musealisierte" Fassung des digital hijacks unter der URL "www.hijack.org" betrachtet werden. Im Sommer 2000 sieht man eine Meldung darüber, der wievielte Entführte man ist und einen Link zum "Underground", wo man weiterführende Informationen zum Digital Hijack erhalten kann (Abb.27).

Der erste Eindruck ist, dass mit dieser Aktion der Benutzer ertappt werden soll bei einer mehr oder weniger unreflektierten Benutzung des Internet, besonders deutlich etwa bei der Suche nach dem Stichwort "Porno": "Wir wollen das Digital Hijacking als Kritik am wahllosen und passiven Gebrauch des neuen Mediums verstehen".17 Verstärkt wird der Eindruck noch dadurch, dass ein Klick auf den "Zurück"-Button des Browsers, in der Regel der erste Versuch, der virtuellen Entführung wieder zu entkommen und das Geschehene wieder Ungeschehen zu machen, erfolglos bleibt, da dieser Ausweg von etoy versperrt worden ist. Deutlich wird bei den ertappten Benutzern auf der Suche nach Pornographie allerdings auch, dass etoy im Prinzip nichts Neues erfunden haben:

"Viele Verbindungen führen zu Projekten, die ähnlich funktionieren: Die Hyper Texting Marxist-Leninists etwa annoncieren eine 'Hardcore porno page' und warten dann mit der militanten pc-Keule auf: 'Danke für ihre Anfrage. Ihr voller Name und die e-mail-Adresse werden automatisch an das Forum alt.feminism übermittelt. Wir hoffen, daß sie die darauf folgende flame-Campagne zu schätzen wissen. Mit freundlichen Grüßen.' Die 'Bible Baptist Church' wiederum sammelt Fälle, wo Pornographie in den Alltag transportiert wird. Manchmal endet das Abenteuer auch bei einem einfachen 'You Loser suck!' Fixbestandteil solcher 'Erwischt'-Seiten ist stets das Zählwerk, das jeden Besucher registriert. Hier liegt die Zeigefingerseite von Roland Rabien mit über 900 000 nicht schlecht im Rennen [...]."18

Jedoch wird von etoy betont, dass ein wesentlicher Aspekt ihrer Aktion der Hinweis auf die Macht der Suchmaschinen im Internet sein soll. Auch wenn dies einem unwillentlich Entführten zunächst nicht klar wird, sind es doch eigentlich die Suchmaschinen, auf deren Ergebnis er sich verlassen hat, und welche ihn auf die falsche Fährte gelockt haben. Suchmaschinen sind in erheblichen Maße für das Auffinden benötigter Informationen verantwortlich. Sie verfügen somit in einem gewissen Sinne Kontrolle über den Zugang zu Internetseiten und führen über ihre hierarchisch gestaffelten Suchergebnisse wieder Ranglisten in ein Medium ein, dem eigentlich das Versprechen der flachen Hierarchien aufgrund seiner Struktur eingeschrieben ist. Der Internet-Benutzer ist wenigen großen Unternehmen ausgeliefert, von denen Yahoo und AltaVista unter den Suchmaschinen, Netscape unter den Internet-Browsern und Microsoft unter den Betriebssystemherstellern sicherlich die Bekanntesten und Mächtigsten sind. Laut etoy sind es kommerzielle Firmen, welche schon längst Kontrolle über den Benutzer ausübt: "netscape has already hijacked the internet-user. now we hijack your attention to show you another direction".19 Die Entführung durch etoy soll so Metapher sein für die "Entführung" der Internet-Benutzer durch die Softwarehersteller und Dienstleister im Internet:

"Die neue Kontextualisierung [...] läßt einen anderen und äußerst kritischen Blick auf die Gegenwart zu [...]. Zugleich wird damit der Blick auf gesellschaftliche Schwächen, Eigenarten und funktionale Besonderheiten ihrer Kommunikationsformen geschärft. Was aber durch den Medienwechsel gewonnen werden kann, wird von einem (oder mehrern) Feind(en) bedroht. Das sind jene, die das WWW kommerzialisieren wollen. Und gegen diese rüstet sich etoy. Sie werden, wie die Netzdienste, die hauptsächlich Werbung anbieten und gelangweilten Netznutzern ein bißchen Sex und Porno offerieren, unterwandert und torpediert, indem ihre Automatismen bloßgelegt werden."20

Im Juni 1996 erhielten etoy die Goldene Nica in der Sparte ".net" der Ars Electronica. Auf der etoy.TIMELINE markiert diese Auszeichnung einen Höhepunkt in der Unternehmensgeschichte. Auch wenn etoy zu der Zeit noch keine Aktiengesellschaft gewesen ist, hat der erfolgreiche "Digital Hijack" mit seinen über 1,5 Millionen Entführten den Wert der Künstlergruppe enorm steigern können. Ganz klar wird von etoy der Unterhaltungswert ihrer eigenen Kunstproduktionen herausgestellt und der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. Bevor nun aber auf etoys größten Erfolg eingegangen werden kann, dem Toywar", wird es nötig sein, zunächst die amerikanische Aktivistengruppe RTMark vorzustellen.



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